- Medizinnobelpreis 1928: Charles Nicolle
- Medizinnobelpreis 1928: Charles NicolleDer französische Arzt und Wissenschaftler erhielt den Nobelpreis für seine Arbeiten über Typhus.Charles Nicolle, * Rouen 21. 2. 1866, ✝ Tunis 28. 2. 1936; 1893 Promotion, anschließend Professor für Pathologie in Rouen, 1896 Leiter des dortigen Bakteriologischen Labors, 1902 Direktor des Institut Pasteur in Tunis, zusätzlich 1932-35 Professor am Collège de France in Paris, anschließend Rückkehr nach Tunis.Würdigung der preisgekrönten Leistungüber Jahrhunderte war der Typhus eine Geißel der Menschheit. So starben zum Beispiel nach dem Russlandfeldzug Napoleons zehntausende Menschen bei großen Typhusepidemien. Die vielen Bezeichnungen für die Seuche, darunter »Hunger-« und »Kriegstyphus«, »Lager-« oder »Kerkerfieber«, sind ein Hinweis darauf, dass Typhusgefahr stets dort besteht, wo viele Menschen unter hygienisch unzureichenden Bedingungen auf engem Raum zusammenleben.Man unterscheidet vor allem zwei Arten von Typhus: Typhus abdominalis, hervorgerufen durch das Bakterium Salmonella typhi, und Typhus exanthematicus (oder Läusefleckfieber), hervorgerufen durch die Mikrobe Rickettsia prowazekii. Beide Krankheitsformen zeichnen sich durch hohes Fieber und rotfleckige Ausschläge aus. Während Typhus abdominalis den Darmtrakt schwer schädigen kann, zieht Typhus exanthematicus das Nervensystem in Mitleidenschaft: Lähmungen, Bewusstseinsstörungen oder Schwerhörigkeit können die Krankheit begleiten. Durchschnittlich endeten früher ohne wirksame Behandlung zehn bis zwölf Prozent aller Fälle von Typhus abdominalis mit dem Tod. Beim Läusefleckfieber kann die Sterblichkeit ohne Behandlung sogar über 50 Prozent betragen.Doch eine wirksame Behandlung war jahrhundertelang nicht möglich: Man kannte weder die Erreger noch die Übertragungswege. Das änderte sich wenigstens für Typhus abdominalis im Jahr 1880, als die deutschen Bakteriologen Robert Koch (Nobelpreis 1905) und Karl Joseph Ebert dessen Erreger entdeckten. Das Bakterium Salmonella typhi wird über die Ausscheidungen Infizierter, den direkten Kontakt mit Erkrankten und durch infizierte Nahrung — besonders über das Trinkwasser — weitergegeben. Die Arbeit von Hygienikern wie des Deutschen Max von Pettenkofer ermöglichte in der Folge die Bekämpfung von Typhus abdominalis.Typhus exanthematicus blieb dagegen weiter unverstanden. Bereits in den 1880er- und 1890er-Jahren wurde jedoch unter Medizinern diskutiert, ob für die Übertragung dieser Krankheit Insekten verantwortlich sein könnten. Dass so etwas möglich ist, bewies der britische Bakteriologe Ronald Ross im Jahr 1897: Er entdeckte, dass Malaria durch Moskitos übertragen wird.1902 wurde er dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Im selben Jahr zog ein junger Arzt von Rouen nach Tunis um: Charles Nicolle wurde Direktor des dortigen Institut Pasteur.Spross einer MedizinerfamilieHinter ihm lag eine steile Karriere. Nicolle war in die Fußstapfen seines Vaters und seines vier Jahre älteren Bruders getreten und hatte in seiner Heimatstadt Rouen und in Paris Medizin studiert. Nach seiner Rückkehr nach Rouen war er 1896 zum Leiter des Bakteriologischen Labors ernannt worden. Mit Infektionskrankheiten hatte sich Charles Nicolle schon während seines Studiums befasst. Zu seinen Lehrern gehörte unter anderen der Bakteriologe Pierre Roux am Pariser Institut Pasteur, der sich mit dem Milzbrand befasste und Vorarbeiten für die Erforschung der Diphtherie leistete.Nicolle forschte zunächst auf dem Gebiet der Geschlechtskrankheiten. Anschließend widmete er sich der Diphtherie. Rouen wollte er zu einem Zentrum der modernen Bakteriologie ausbauen. Dabei scheiterte er an den örtlichen Behörden, denen er Provinzialität vorwarf. So kam ihm 1902 der Ruf an das Institut Pasteur in Tunis sehr gelegen. In Tunis wurde damals vor allem Tollwut erforscht und Impfstoffe hergestellt.Nicole wandelte das Institut zu einer der führenden Forschungsstätten für Infektionskrankheiten Nordafrikas um. Er untersuchte hier die Leishmaniose, eine Erkrankung der Haut, Schleimhäute und Eingeweide, hervorgerufen durch bestimmte Parasiten (Leishmania). Außerdem befasste er sich mit der Trachomatose (Conjunctivitis trachomatosa), einer Bindegewebsentzündung am Auge, die durch infizierte Fliegen übertragen wird.Kampf gegen die Typhusepidemien in TunisVor allem aber beschäftigte er sich von Anfang an auch mit dem Typhus, den er für eines der drängendsten Probleme hielt: Alljährlich wurde Tunis von einer Typhusepidemie heimgesucht. Nicolle beobachtete, dass ein Patient mit Typhus exanthematicus vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus eine Infektionsgefahr darstellte. Nach seiner Einlieferung war er jedoch nicht mehr infektiös; er war entkleidet, gewaschen und rasiert worden. »Es war also etwa Fremdes an ihm, das er mit sich trug, in seiner Wäsche, auf seiner Haut, das die Infektion verursachte. Das konnte nur die Laus sein. Und es war die Laus«, schrieb Nicolle später.Zu Anfang des Jahres 1909 infizierte er zunächst Affen durch Blutübertragung mit Typhus. Er injizierte Makaken das Blut von infizierten Schimpansen. Dass es möglich ist, Krankheiten auf diesem Weg zu übertragen, war nichts Neues. Ähnlich infizierte Nicolle auch Meerschweinchen, die er so zur Zucht von Typhuserregern verwendete.Im September desselben Jahres gelang ihm schließlich der Nachweis des natürlichen Übertragungswegs: Wieder infizierte er Makaken mit Typhus exanthematicus. Diesmal jedoch ließ er sie von Kleiderläusen beißen, die zuvor an Makaken Blut gesaugt hatten, die Nicolle selbst mit dem Blut erkrankter Schimpansen infiziert hatte. Wie der Mediziner herausfand, konnte das Blut einiger Meerschweinchen ansteckend sein, obwohl die Krankheit bei ihnen nicht ausbrach; damit hatte er zugleich die so genannte inapparente Infektion entdeckt.Nicolle beobachtete weiter, dass der Erreger in den Läusen stets erst etwa eine Woche nach dem Läusebiss wirksam (virulent) wurde: Rickettsia prowazekii muss sich zunächst im Darm der Kleiderlaus vermehren. Die eigentliche Übertragung findet anschließend vor allem über den Läusekot statt, der beim Kratzen in die Blutbahn der Wirte gerät. Den Erreger des Typhus exanthematicus entdeckten im Jahr 1910 der Amerikaner Howard Taylor Ricketts und der Deutsche Stanislas von Prowazek. In den folgenden Jahren entwickelte Nicolle mithilfe immun gewordener Affen erste Impfstoffe gegen Typhus exanthematicus. Durch Hygienemaßnahmen gelang es ihm, Tunis innerhalb von drei Jahren von Typhus zu befreien.Die Verleihung des Medizinnobelpreises an ihn war umstritten: Nicolle hatte mit seiner Arbeit im Prinzip keine grundlegend neuen Erkenntnisse geliefert. Dass Infektionen durch Insekten übertragen werden können, wusste man bereits. Durch Nicolles Arbeit aber hatten im Ersten Weltkrieg vor allem die westlichen Armeen wesentlich geringere Typhusverluste zu verzeichnen. Im Zweiten Weltkrieg bekämpfte man die Läuse sehr effektiv mithilfe von DDT. Heute gibt es zudem wirksame Schutzimpfungen gegen Typhus.Die Krankheit gilt daher in den Industriestaaten als nahezu ausgerottet. Große Epidemien von Typhus exanthematicus registriert die Weltgesundheitsorganisation WHO jedoch noch immer in Afrika.A. Loos
Universal-Lexikon. 2012.